„Meine Sucht nach Musik war einfach nicht zu stillen“

Die aus Brühl stammende Sopranistin Vera-Lotte Boecker gehört zu den vielfältigsten Sängerinnen ihrer Generation. Ihr breit gefächertes Repertoire reicht von Operette über große Oper bis hin zu Neuer Musik. 2022 kürte sie das Fachmagazin „Opernwelt“ in seiner jährlichen Kritikerumfrage zur Sängerin des Jahres.

von Heike Breuers

Vera-Lotte Boecker studierte zunächst Literatur an der Humboldt Universität zu Berlin. Doch ihre große Leidenschaft galt der Musik. So kann es kein Zufall sein, dass sie im weiteren Verlauf auch Gesang an der Hochschule (HU) für Musik Hanns Eisler studiert. Oder doch? Wie es dazu kam wollen wir in unserem Gespräch von ihr wissen. An gleich mehrere Schlüsselmomente kann sich die Sopranistin erinnern: „Es gab im ′ Kulturkaufhaus Dussmann′ zu meiner Studienzeit die Möglichkeit, in der CD-Abteilung zu sitzen und alle CD’s dort im Laden zu hören. Dussmann war um die Ecke der Humboldt Universität, ich weiß nicht, wie viele Stunden ich dort verbracht habe und mich durch alle verschiedenen Interpretationen gehört habe, auch Symphonien und Klavierkonzerte. Ich habe dann eine Weile versucht, beide Studiengänge parallel zu studieren, was einige Schwierigkeiten mit sich brachte. Ich werde nie vergessen, wie mir ein damaliger Lehrer an der HU in einer Sprechstunde sagte: „Aber wenn Sie singen können, singen sie doch!“. Das hat mich überrascht, und ich habe ab da begonnen, mich wirklich für den Gesangsweg zu öffnen.“

Extreme Charaktere reizen mich

Zu den Höhepunkten Boeckers bisheriger Karriere zählt ihre herausragende Leistung als Nadja in Georg Friedrich Haas‘ Oper Bluthaus. Hierfür wurde sie vom Fachmagazin Opernwelt zur Sängerin des Jahres 2022 gewählt. Die Auszeichnung wird durch ein Votum von Kritikern vergeben, auf Vera-Lotte Boecker entfielen die meisten Stimmen. „Mich hat diese Auszeichnung zunächst wahnsinnig gestresst, aber wenn ich zurückblicke, bin ich sehr dankbar. Ich hatte nie große Karriereambitionen, aber es ist wunderschön, wenn eine Herzensarbeit, wie sie in Bluthaus steckte, wahrgenommen wird.“ Mit riesiger Freude blickt die Sopranistin auf die neue Saison. Bei den prestigevollen Bregenzer Festspielen, vom 17. Juli bis 18. August, wird die gebürtige Brühlerin ihr Rollendebüt als Agathe in Philip Stölzls neuer Inszenierung des Freischütz geben. Für die Zukunft hat Vera-Lotte Boecker noch einige Rollen auf dem Schirm. Hierzu verrät sie: „Ganz sicher Jenufa und Kat’a von Janacek. Ich liebe Verdi, nahezu jede seiner Partien wäre ein Traum. Und sollte meine Stimme irgendwann wirklich dramatische Qualitäten entwickeln, würde mich Salome und eines fernen Tages auch Elektra ungemein reizen. Unterm Strich singe ich vor allem immer wieder Partien, die ich noch nie gesungen habe, und je extremer der Charakter, desto mehr Spaß macht es mir, ihn darzustellen. Zu ihrem emotionalsten Bühnenerlebnis sagt sie: „Oh, es ist nicht ein einzelnes, es gibt viele und es gibt auch heute noch viele. Das allererste war vielleicht „Tristan und Isolde“, damals in Düsseldorf, ich wollte Linda Watson als Isolde hören, die ich schon im Tannhäuser als Venus gesehen hatte. Der Tannhäuser hatte mir auch gefallen, aber Tristan war wie eine Erweckung. Der Rigoletto an der Komischen Oper Berlin von Kosky gehört dazu, aber auch die Daphne von Claus Guth. Wenn Bühne und Musik auf so eine magische und intelligente Weise zusammenfinden, bin ich nach wie vor sprachlos und tief berührt.“

Yoga ist ein umfassendes Lebenssystem

Seit 2021 ist Vera-Lotte Boecker auch ausgebildete Yoga-Lehrerin. Yoga bedeutet für sie: „Union“, also „Einheit“. Das versuche ich, zu meinem Lebensprinzip zu machen. Mich verbunden zu fühlen mit allem, den Elementen, dem Kosmos genauso wie mit allen Menschen und Lebewesen, auf niemanden runterzuschauen und aus dem Gefühl heraus zu leben, dass wir nicht voneinander getrennt sind, sondern wir alle Teile eines sehr großen Ganzen sind. Das beinhaltet auch, sich selbst nicht gar zu wichtig zu nehmen.“ Regelmäßig besucht die Sopranistin noch ihre Eltern in Brühl. Boeckers Lieblingsort ist der Schlosspark, sie schwärmt: „Gerade im hinteren Teil gibt es herrliche alte Bäume und Alleen, dort gehe ich viel spazieren,
wenn ich in Brühl bin.“