Der Alptraum – Stadtmagazin-Autor erlebte die Katastrophe

Zu den besonders Betroffenen der Unwetter-Katastrophe gehören im Rhein-Erft-Kreis die Bewohner von Erftstadt- Blessem. Stadtmagazin-Autor Philipp Wasmund ist einer von ihnen. Er berichtet auf ganz persönliche Weise, wie er die ersten Tage erlebt hat.

Es ist Mittwochabend, es regnet seit Stunden und ich bin auf dem Weg von Interviewterminen zurück nach Blessem, wo ich schon mein ganzes Leben lang wohne. Ein Termin am Abend ist schon ab- gesagt worden, kleine Bäche werden zu Flüssen auf dem Nachhauseweg. Die Erft in Blessem wird oft als Fotomotiv für unsere Stadt ge- nutzt, weil es hier im richtigen Blickwinkel sehr malerisch aussehen kann. Ich fahre über die Brücke ins Dorf, weiter unten sollte die Erft sein, hier normalerweise 30 bis 50 Zentimeter tief. Nun hat die Erft über drei Meter und wird bald die Brücke überschwemmen. Ich mache ein Foto und aus irgendeinem Grund wird mir nicht klar, wie ernst das ist. In einem Raum in meinem Keller ist das erste Wasser angekommen. Nicht schön, aber beherrschbar, denke ich. Aber dann hört es einfach nicht auf, aus dem Mauerwerk zu tropfen. Mitternacht, und ich frage meinen Nachbarn nach einer Pumpe. Er ist gerade fertig geworden und gibt sie gerne. Wir denken noch alle, dass es nur ein bisschen Hochwasser ist. Die Pumpe hilft nicht, also geht es per Hand weiter. Dann brauche ich eine Stunde Schlaf. Stromausfall. Nach der kurzen Pause geht es weiter mit Kerzenlicht bis ich aus Erschöpfung wieder pausieren muss, ehe ich weitermache bis in den neuen Tag hinein. Langsam kommt die Gewissheit, dass es nichts wird. Ich beginne viel zu spät Dinge retten zu wollen. Jetzt erfahre ich durch Nachbarn, dass wir den Ort evakuieren müssen. Die Erft kommt und zwar plötzlich sehr schnell. Schnell zwei Aktenordner, den Computer ins Auto. Für andere Unterlagen keine Zeit. Rein ins Auto, raus aus dem Ort. Aber Stau, denn die Brücke über die B265 ist schon dicht. Die Luxemburger ist selbst schon ein Fluss, darunter die Autos. Zurück geht auch nichts. Ich spreche die Menschen um mich herum an, dass wir eine kleine Straße in das Neubaugebiet freimachen. Nach ein paar hundert Metern treffen wir wieder auf Wasser, das Auto streikt fast. Und doch sehe ich sehr viele Nachbarn, die immer noch versuchen, die Häuser vom Wasser zu befreien. Es ist eine gespenstische Situation, in jeder Straße kommt das Wasser in enormer Geschwindigkeit in den kleinen Ort.

Die letzte Ausfahrt

Ein kleiner Fußweg ist die letzte Ausfahrt aus dem Dorf, wodurch sich nun die Autos herausarbeiten. Ich stelle mein Auto an anderer Stelle ab und gehe zu Fuß zurück, um etwas herauszufinden. Um Menschen zu treffen, denn das Handy ist im Haus zurückgeblieben. Einige Zeit später bin ich am Ortseingang und eine Polizistin sagt: „Ich denke, dass Ihr Haus wohl unter dem Wasserspiegel ist. Erstmals nehme ich wahr, dass alles, was man besitzt, weg ist.“ Der Schock ist groß. Einen Tag später schafft es ein Nachbar in den Ort und gibt etwas Entwarnung für mein Zuhause. Aber der Keller, in Blessem meistens auch Wohnfläche, ist komplett voll.

Eindrücklich sind die Erlebnisse im Evakuierungslager im Ville-Gymnasium. Ich sehe, wie Krankenhausbetten die Straße hochgeschoben werden. Das Marien-Hospital ist überspült, es müssen sich schlimme Szenen dort abgespielt haben. Man erzählt mir, dass sich Erftstädter bei der Rettung ihrer Häuser Kopfverletzungen zugezogen haben. Ich lerne jemanden kennen, der sich mit Mühe gerettet hat und von der Burg aus sah, wie die Erft in Sturzbächen in die Kiesgrube ging. Ich schlafe nicht in der Einrichtung, komme aber auf einer Couch in nächster Nähe zunächst unter. In der Nacht glaube ich, Wasserrauschen und Tropfen zu hören. Aber es ist ein Alptraum gewesen, stelle ich fest, als ich aufwache. Normalerweise träume ich nicht viel. Im Ville-Gymnasium sind in der ersten Nacht weit über hundert Menschen. Manche müssen auf dem Boden schlafen oder setzen sich zur Ruhe auf einen Stuhl, den Kopf auf dem Tisch. Viele können gar nicht schlafen, denn die Sorgen sind überall groß und werden auch nicht weniger. Denn Informationen erhalten wir tagelang kaum welche. Kurz erscheinen Ministerpräsident, Bürgermeisterin und Landrat. Vielen wird erst nach und nach klar, dass die Situation in Blessem eine andere ist. Die Kiesgrube, nur wenige Meter von den Häusern entfernt scheint unser Verderben zu werden. Kann man je wieder zurück?

Manche Blessemer Familie lebt seit über hundert Jahren dort. Gleichzeitig geht der Ausnahmezustand weiter. In der Einrichtung kommen Kleiderspenden an. Auch ich benötige sie dringend, habe ich doch nichts außer einer zweiten Hose aus dem Haus mitnehmen können. Hilfsorganisationen haben hier die Infrastruktur aufgebaut. In den Gesprächen hören wir ihre Betroffenheit. Aber auch, wie anstrengend es für sie ist. Schließlich sind die Katastrophenschützer alles Ehrenamtler. Regelmäßig kommen große Einsatztrupps hier an. In den frühen Morgenstunden findet der Wechsel der Einsatzkräfte oft statt mit zahllosen Fahrzeugen. Im Stadion in Liblar starten und landen tagsüber zur Hochzeit fünf Hubschrauber im Minutentakt, die Menschen aus dem Gebiet retten. Auch Geflüchtete sind hier untergekommen und ich denke mir, wie das alles auf sie wirken mag. Diese Katastrophe, die kriegsähnliche Begleiterscheinungen hat. Manche sind nicht so stark betroffen, sagen mir unter Tränen aber, wie sehr es ihnen für die Erftstädter leid tut, die sie hier freundlich aufgenommen haben. Andere wohnten etwas weiter vom Ortskern im Übergangsheim in der Radmacherstraße. Es ist die Straße, die nun weltberühmt ist. Deren Foto in der New York Times ist. Die Fertighäuser, die in den 90er Jahren während des Bosnienkrieges aufgebaut wurden, haben manche zu einem gemütlichen Heim umgestaltet. Nun ist alles weg, sie besitzen auch nichts mehr.

Noch fragen wir uns vielfach über den Verbleib vieler der Nachbarn. Manche sah ich bei meiner Flucht aus dem Ort. Geht es ihnen gut? Die Kriminalpolizei ruft an, fragt, ob ich etwas über die Nachbarin weiß.

Große Ungewissheit

Jeden Tag mehr, macht sich die Befürchtung breit, dass Blessem verloren sein könnte. Wie wird das Problem zur Sicherung der Kiesgrube gelöst? Informationen werden von den Blessemern eingefordert und kommen nicht. Was steckt dahinter? Das sind die Themen. Es fließen viele Tränen. Unvorstellbar für viele, die Heimat nicht nur nicht aufbauen zu können, sondern möglicherweise zu verlieren. Die Tage rasen in der Unterkunft dahin, so dass einige auch spät abends noch miteinander sprechen, über das was passieren könnte. Und man erzählt sich seine Geschichten. Es sind private Schicksale, die einen sehr traurig machen. Mancher sagt, dass er alles verloren hat und deswegen weit wegziehen möchte. Die Gemeinschaft wächst zusammen, man hilft sich. Das „Du“ ist unter den Blessemern jetzt üblich. Am siebten Tag warten wir erneut auf Informationen, die aber auch nach Stunden nicht kommen. Wir warten darauf, wenigstens kurz in die Häuser zu gehen. Aber zwischen den Behörden gibt es wohl unterschiedliche Meinungen. Es nervt unendlich, es ist unglaublich anstrengend über Tage hinweg zwischen Hoffen und Bangen zu leben. Man merkt, es geht bei allen an die Substanz. Die Ungewissheit ist für viele schlimmer als die Katastrophe selbst. 21 Uhr an diesem siebten Abend und plötzlich kommt die Nachricht rein, dass der Kreis die Begehung doch erlaubt am nächsten Tag. Danach soll eine Überprüfung stattfinden, dass wir dauerhaft zurückkehren können. Fünfzig Minuten später ist diese Nachricht überholt. Wir dürfen am nächsten Tag dauerhaft zurück. Menschen schreien laut auf vor Freude. Eine Sektflasche wird organisiert, ein paar stoßen an. Andere schütteln den Kopf. Die Anstrengung ist groß. Aber jetzt können auch die Blessemer wieder in die Zukunft schauen. Auch wenn sie für manche sehr schwer wird.