Ukraine-Krise – Udo Lielischkies: „Moskau setzt Gas als politisches Druckmittel ein“

Der Brühler Udo Lielischkies berichtete viele Jahre lang als ARD-Korrespondent aus Russland. Sein Bestseller „Im Schatten des Kreml“ ist ein authentischer Blick auf das heutige Russland und zugleich eine Kritik am System Putins. Der renommierte Experte antwortet auf Fragen von Hans Peter Brodüffel.

Baut Putin nur eine Drohkulisse auf oder will er wirklich Krieg mit der Ukraine?

Für eine tatsächliche Aggression spricht schlicht die militärische Machbarkeit: Russland hat erdrückend viel Militärtechnik und Personal nahe der Grenze konzentriert, im Norden, Osten und Süden, besitzt eine weit überlegene Luftwaffe und Kriegsflotte. Dem könnte das ukrainische Militär samt Freiwilligen-Verbänden wenig entgegensetzen. Gegen dieses Szenario sprechen die extrem hohen Kosten für Russland: Auf Eroberung folgt Besetzung, nach der Krim-Annexion und acht Jahren Krieg im Donbas ist die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung klar auf WestKurs, will sie sich nicht wieder von Moskau vereinnahmen lassen. Anders als im Donbas wäre ein anhaltender Widerstand bis hin zum Partisanenkrieg wahrscheinlich, und inzwischen sind viele ukrainische Männer kampferprobt. Die Erinnerungen an den hohen sowjetischen Blutzoll im Afghanistan-Krieg und an den schmählichen Abzug sind tief in der russischen Bevölkerung verankert.

Welche Szenarien sind bei einer Besetzung der Ukraine denkbar?

Dieser Frage hat sich unter anderen das „Institute for the Study of War“ ausgiebig gewidmet. Neben einer Eroberung großer Teile der Ukraine, inklusive der Besetzung von Kiew, werden begrenzte Angriffe diskutiert, etwa die Eroberung einzelner Städte wie Kharkiv und Odessa oder die Übernahme der gesamten westlichen Küstenlinie am Asowschen Meer, um eine Landverbindung zur Krim zu schaffen. Bei keiner dieser Varianten hätte die ukrainische Seite eine reelle Chance, den Vormarsch der russischen Truppen zu verhindern, so die Autoren. Dennoch halten sie die große Invasion für unwahrscheinlich. Allein Millionenstädte wie Kiew gegen Widerstandskämpfer zu sichern, sei eine gewaltige Aufgabe mit extrem hohen Kosten. Für wahrscheinlicher hält diese Studie, dass Putin Truppen in Belarus zurücklässt und weitere, diesmal offen, im von Separatisten besetzten Donbas stationiert.

Der Kreml-Chef hat den Zusammenbruch der Sowjetunion als größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Trauert der ehemalige KGB-Agent dem Verlust des russischen Imperiums nach?

Eindeutig. Für ihn als kleiner Geheimdienstler in Dresden brach sein ganzes Koordinatensystem zusammen, als die Zentrale in Moskau nicht mehr antwortete. Der KGB verlor den Großteil seiner Macht und gesellschaftliches Ansehen, Putin seinen Job, er musste kurzfristig sogar als Taxifahrer arbeiten. Diese tief empfundene Schmach prägt seine Weltsicht bis heute, die Restauration Russlands als wichtige Großmacht ist Putins Leitmotiv. Der Wunsch der russischen Bevölkerung nach besseren Lebensbedingungen wird dadurch zweitrangig.

Putin-Lobbyist Gerhard Schröder fordert die Ukraine allen Ernstes auf, das Säbelrasseln zu unterlassen. Kanzler Scholz umschwimmt jede Frage nach Nord Stream 2. Verteidigungsministerin Lambrecht schickt der ukrainischen Armee 5.000 alte Helme und ein Feldlazarett. Wie zynisch ist das denn?

Sehr. Berlin liefert nicht nur keine Defensivwaffen, sondern verhindert auch die Übergabe einfacher Feldhaubitzen durch Estland an die Ukraine. Auch moderne Aufklärungs-, Kommunikations- und Transporttechnik würde eine sinnvolle Hilfe zur Selbstverteidigung darstellen, stattdessen Helme und ein Lazarett. Die Briten, die Waffen liefern, umfliegen sogar den deutschen Luftraum – soviel zur solidarischen Einigkeit der Europäer. Nicht zuletzt Nord Stream 2, eingefädelt nur ein Jahr nach der Krim-Annexion, hat Berlin von vielen Partnerländern, vor allem in Osteuropa, entfremdet und Putin, da sind sich viele Beobachter einig, eher ermutigt. Olaf Scholz scheint diesen Kurs nun fortzusetzen. Seine beharrliche Weigerung beim Antrittsbesuch im Washington, diese strategische Pipeline auch nur beim Namen zu nennen, macht selbst wohlwollende Beobachter ratlos, schürt Misstrauen.

Bleibt es beim deutschen Sonderweg? Sind Berlin die guten Geschäfte mit Moskau wichtiger als eine klare Position? Wie abhängig ist Deutschland von russischem Gas?

Europa bezieht aus Russland rund 40 Prozent seiner Gasimporte. Deutschland sogar 55 Prozent. Die deutschen Erdgasspeicher sind dabei nur zu 35 Prozent gefüllt, viel weniger als in den Vorjahren. Der Grund: Russlands Gazprom exportiert in diesem Jahr 40 Prozent weniger Gas als noch 2021. Der Staatskonzern erfüllt damit zwar seine Lieferverträge, geht aber nicht darüber hinaus. Ein erstaunliches Geschäftsgebaren angesichts der riesigen Nachfrage und der damit verbundenen Höchstpreise. Gazprom könnte sich eine goldene Nase verdienen, tut es aber nicht. Moskau setzt also offensichtlich Gas als politisches Druckmittel ein. Würde Nord Stream 2 genehmigt, hätte die Knappheit schnell ein Ende, „Die Pipeline ist ein rein wirtschaftliches Projekt!“ Dieses Mantra, an dem Kanzler Scholz bis heute festhält, hat sich längst als weltfremdes Märchen entlarvt.