„Wie viele Weckrufe brauchen wir denn noch?“

Der frühere Brühler Günter Verheugen wurde 1999 Mitglied der Europäischen Kommission und war von 2004 bis 2010 EU-Kommissar für Industrie und Unternehmen. Stadtmagazine- Redakteur Hans Peter Brodüffel hat mit dem engagierten Europäer, der am 28. April seinen 75. Geburtstag feiert, kurz nach dem letzten Brexit-Gipfel gesprochen.

von Hans Peter Brodüffel

Herr Verheugen, Sie setzen sich seit Jahrzehnten mit Vehemenz für Europa ein. Sind Sie angesichts der aktuellen Lage der EU nicht frustriert und verzweifelt?

Nein. Wenn man sich, wie ich es tue, auch mit bald 75 Jahren noch an der politischen Diskussion beteiligt, dann tut man das ja in der Hoffnung, allen Schwierigkeiten zum Trotz etwas bewirken zu können. Die rheinische Mischung aus Fatalismus („et kütt wie et kütt“) und Optimismus („et hätt noch immer joot jejange“) hilft uns in unserer jetzigen politischen Lage nicht weiter. Ich glaube, dass sich am Ende die Vernunft durchsetzen wird, frage mich aber, wie viele Weckrufe (Trump, Brexit, neuer Nationalismus) wir denn noch brauchen. Was jetzt nötig wäre, ist mehr pro-europäisches Engagement auf allen Ebenen. Aber dafür muss die Politik durch ihr Handeln gute Argumente liefern. Es geht um Problemlösung, nicht um bombastische Rhetorik, die keiner mehr hören will.

Worin besteht die größte Bedrohung für die EU?

Objektiv ist es so, dass weltpolitische und weltwirtschaftliche Lage die EU aber auch ganz Europa mehr und mehr an den Rand drängt. Wir sind schon lange nicht mehr der Nabel der Welt. Die große Gefahr für die EU und den gesamten europäischen Kontinent besteht darin, dass wir in dieser Lage es versäumen, unsere Kräfte zu bündeln und stattdessen unser Heil in die Rückkehr zu enger nationalstaatlicher Interessenpolitik sehen und neue Feindbilder zu schaffen. Die populistische und nationalistische Welle, die zurzeit vielerorts in der EU den Gedanken der Schicksalsgemeinschaft untergräbt, ist ein alarmierendes Zeichen. Freilich genügt es nicht, das festzustellen. Die tatsächlichen Ursachen müssen erkannt werden. Mir scheint, dass unsere Staatenlenker in der EU den Willen zu ernsthafter, auch selbstkritischer Analyse nicht aufbringen.

Welche politische Langzeitfolge hat der Brexit für Europa?

Für viele Folgen des Brexit wird man mit der Zeit Lösungen finden. Was wir aber nicht aus der Welt schaffen können, ist der globale Bedeutungsverlust der EU. Immerhin hat Großbritannien die Wirtschaftskraft und damit das gleiche Gewicht wie 20 der kleinen und mittleren EU-Staaten. Nur ein Beispiel: Die EU wird dadurch ihre Rolle als größter Geber von Entwicklungshilfe verlieren. Ohne Großbritannien wird unser internationaler Einfluss deutlich zurückgehen. Es wird schwer abzuschätzende Konsequenzen, aber bestimmt keine guten, in unserem Verhältnis zu den USA geben. Aber vor allen Dingen: Die Gewissheit ist zerstört, dass die europäische Einigung ein Prozess ist, der nicht angehalten oder gar umgekehrt werden kann. Nun kann niemand mehr die Möglichkeit eines Scheiterns des gesamten Einigungswerkes ausschließen.

Was hat die EU gegenüber David Cameron, Vorgänger von Theresa May, falsch gemacht?

David Cameron, der das Brexit-Referendum, in Gang gesetzt hat, war für den Verbleib in der EU. Er wollte den jahrzehntelangen Konflikt vor allem in seiner eigenen Partei beenden. Cameron hat eine ganze Reihe von sehr vernünftigen Vorschlägen gemacht, wie die EU bürgernäher arbeiten und so mehr Zustimmung finden könnte. Wäre er damit erfolgreich gewesen, hätte er in Großbritannien für den Verbleib in einer reformierten EU mehr Zustimmung gefunden. Diese Möglichkeit hat ihm die EU nicht gegeben. Er wurde über Jahre nicht gehört und schließlich mit ein paar leeren Versprechungen abgespeist. Die EU hätte Camerons politischen Vorstoß, so gefährlich er war, als Einstieg in eine umfassende EU-Reform nutzen können. Mich hat hier besonders die deutsche Haltung enttäuscht. Gerade Deutschland hätte alles tun müssen, um Großbritannien in der EU zu halten, denn jahrzehntelange Erfahrung hat uns gelehrt, dass es sehr viel mehr deutsch-britische Gemeinschaften gibt als Unterschiede, wenn es um EU-Politik geht.

„Take back control“ lautet der Slogan der Brexiteers. Ist der angesichts Brüsseler Regulierungs- und Harmonisierungswut nicht verständlich?

Das Problem ist, dass die Balance zwischen EU- und nationalen Kompetenzen gestört ist und das erscheint vielen Menschen als bedrohliche Fremdbestimmung. „Take back control“ ist ja auch in Deutschland aufgegriffen worden, mit dem Slogan „Wir holen unser Land zurück“. Jeder, der heute einfache Lösungen predigt, gaukelt den Menschen etwas vor. Komplizierte Dinge verlangen leider auch komplizierte Lösungen. Aber die muss man transparent machen und erklären.

War es in Zeiten allgemeiner Verunsicherung nicht naiv und weltfremd, die Nationalstaaten als Auslaufmodell zu betrachten?

Ja, das ist so, aber nicht erst jetzt. Die Idee einer Bundesrepublik Europa, also eines föderal organisierten Staates, hatte in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg starke Argumente für sich, war aber schon damals nirgendwo mehrheitsfähig. Es ist eine Frage der historischen, kulturellen, sprachlichen und natürlich auch politischen Identität. Kaum jemand würde in Europa von sich sagen, er wäre Europäer und sonst nichts. Wir sehen uns, und das ist gut so, als Rheinländer, Deutsche und Euro päer, als Bretonen, Franzosen und Europäer, und so weiter. Ich kenne auch heute kein Volk in Europa, das bereit wäre, seine eigene Staatlichkeit aufzugeben. Wir brauchen das auch nicht. Wir können als Europäer stark und einig sein, ohne unsere nationalen und regionalen Unterschiede und Wurzeln zu verleugnen oder gar kappen zu müssen.