Interview mit Altbundespräsident Joachim Gauck – Lesung am 11. September

Joachim Gauck, Bundespräsident von 2012 bis 2017, liest am 11. September im Dorothea-Tanning-Saal des Max Ernst Museums aus seinem Buch „Toleranz: einfach schwer“. Vor seinem Besuch in der Schlossstadt Brühl antwortet der große Demokrat Gauck ausführlich auf vier ausgewählte Fragen von Stadt-Magazine-Redakteur Hans-Peter Brodüffel.

In Ihrem Buch plädieren Sie für eine „kämpferische Toleranz“. Was ist damit gemeint?

Toleranz gebietet, dass ich aushalte und dulde, was ich falsch finde und ablehne. Aber Toleranz ist nicht beschränkt auf passives Erdulden, sie schließt auch den kämpferischen Wettstreit um die richtige oder richtigere Meinung ein. Außerdem muss es in einer demokratischen Gesellschaft Grenzen der Nachsicht und Duldsamkeit geben. Wenn Toleranz und Pluralität bedroht sind, ist gegenüber Intoleranten auch Intoleranz geboten – als eine Haltung von Demokraten im Namen der Grund- und Menschenrechte.

Gibt es in Ihrer Biografie Zeiten, in denen Ihnen Toleranz unzumutbar erschien?

Natürlich, wie bei jedem Menschen immer wieder! Vor 1990 gegenüber einem repressiven Staat, gegenüber dem ich in keiner Weise tolerant sein wollte. Da fand ich mich politisch und moralisch auf Seiten der „Guten“. Aber nach 1990 merkte ich, dass ich auch mit vielem Neuen und Fremden im freien Westen meine Schwierigkeiten hatte. Aus der eher abstrakten Idee Toleranz wurde nun eine nicht immer bequeme Anforderung im Alltag. Wie weit sollte meine Toleranz reichen? Wo aber war Intoleranz angezeigt, damit Intolerante nicht einfach von Gleichgültigkeit oder falscher Nachsicht profitieren? Dieser Konflikt tauchte besonders auf, nachdem ich mit der Funktion des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen betraut worden war. Mir vorzustellen, dass ähnlich wie in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik ehemalige Nazis nun Richter, Staatsanwälte oder auch Militärs aus der DDR-Diktatur unterschiedslos und ungeprüft von der neuen Demokratie übernommen wurden, erschien mir nicht nur politisch unklug, es widersprach auch zutiefst meinem Gerechtigkeitsempfinden. Das wäre falsche Toleranz gewesen.

Die vielen Aufrufe zur Toleranz klingen oft anstrengend und angestrengt. Muss Toleranz immer so sein?

Toleranz ist ohne eine gewisse Anstrengung nicht zu haben. Das liegt ganz einfach an der spannungsgeladenen Ausgangssituation: Ich soll aushalten, was mich immer auch abstößt. Aber Toleranz „lohnt“ sich auch – und zwar individuell und politisch. Sie ist ein Gebot der Vernunft und belohnt uns, wo wir sie praktizieren, mit einem gesellschaftlichen Zusammenleben, das weniger aggressiv, weniger provokativ, weniger polarisierend ist. Hinzu kommt: Die Überwindung, die in jedem toleranten Akt steckt, führt uns vor Augen: Der Mensch hat eine Wahl – ich habe eine Wahl. Toleranz ist, so gesehen nicht nur eine Zumutung und Beschränkung, sondern auch eine Selbstermächtigung und Befreiung.

Ist Toleranz in der multikulturellen Gesellschaft nicht notwendige Voraussetzung von allem?

Ja, denn Vielfalt kann ohne Toleranz nicht existieren. Und eine Gesellschaft, die ethnisch, religiös, kulturell vielfältiger wird, stellt auch höhere Anforderungen an unsere Toleranz. Wenn Multikulturalismus nun meint, dass sich Menschen trotz unterschiedlicher Prägungen und auch unterschiedlich lange Anmarschwege zu einem gleichberechtigten Zusammenleben zusammentun in der Verteidigung und dem Ausbau eines demokratischen, liberalen Gemeinwesens, dann bejahe ich Multikulturalismus. Einwanderer haben unser Land reicher, stärker, vielfältiger gemacht. Wenn Multikulturalismus aber eine politische Theorie und Praxis meint, die es verbietet, Kulturen, Glaubensrichtungen und Lebensformen kritisch zu hinterfragen, dann lehne ich das Konzept ab. Ich halte es für falsch, Nachsicht gegenüber Kulturen zu üben, die Vorbehalte gegenüber der Aufklärung und den Menschenrechten haben und frauenfeindlich, homophob, antisemitisch, antidemokratisch oder intolerant sind. Eine offene und liberale Gesellschaft strebt universelle Menschen- und Bürgerrechte an –für alle, aus welcher Tradition sie auch immer kommen mögen.